Uwe Timm: Morenga

  Deutsche Kolonialgeschichte

Keine Biografie oder Romanbiografie des Führers der Nama, Jakob Morenga, und auch kein gewöhnlicher Roman ist das bereits 1978 erschienene, zum 80. Geburtstag von Uwe Timm 2020 neu aufgelegte Morenga. Die Collage aus fiktionaler Erzählung, historischen Dokumenten und authentischen wie erfundenen Berichten ist eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1908.

Der fiktionale Teil
Nicht Morenga steht im Zentrum der Handlung, sondern der fiktive Oberveterinär Johannes Gottschalk, der im Oktober 1904 als freiwilliges Mitglied der deutschen Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika ankommt. 34 Jahre ist der Kaufmannssohn aus Glückstadt alt, der mit dem Duft der Gewürze aus aller Welt aufwuchs und sich nun um Truppenpferde und erbeutete Rinderherden kümmern soll. Er träumt von einer eigenen Farm und notiert zu Beginn in seinem Tagebuch:

Tr. [General Trotha] sagt, das gesamte Stammesgebiet der Herero soll Kronland werden, d.h. für die Besiedlung freigegeben. Angeblich das beste Land in Südwest, gute Weiden und verhältnismäßig viel Wasser. Ein schöner Gedanke, dass es in dieser Wildnis einmal Augen geben wird, die Goethe lesen, und Ohren, die Mozart hören. (S. 25)

Was ihn, Kind seiner Zeit und doch von Beginn an mit mehr Empathie für die Eingeborenen ausgerüstet als die meisten seiner Kameraden, erwartet, sind die soeben besiegten Herero, die in Konzentrationslagern an Ruhr, Typhus und Hunger sterben und von ehemals 80.000 auf 15.130 dezimiert werden, sowie ein bevorstehender Guerillakampf gegen die Nama, von den Buren einst Hottentotten genannt, unter ihren Anführern Jakob Morenga und Hendrik Witbooi. Gottschalks steigende Zweifel, Ergebnis seiner Beschäftigung mit der Nama-Sprache und Kontakten zu Einheimischen, sein zunehmendes Außenseitertum und schließlich seine Überlegungen zum Desertieren oder Überlaufen, sind der rote Faden der Romanhandlung, in der es im Frühjahr 1905 heißt:

Zwischen dem, was er tat, und dem, was er dachte, war ein Riss. Zuweilen hatte er das Gefühl, als sei der, der da ritt, die Sporen gab, Befehle erteilte, Treiber kontrollierte, ein anderer als der, der alles betrachtete und überdachte. Was ihn beruhigte, was die beiden Teile seines Selbst verband, war der Gedanke, dass ihm momentan nichts anderes zu tun übrigblieb als dieses: seine Pflicht. Aber dann dachte er wieder dran, dass er mithalf, den Kreislauf von Gewalt und Terror fortzusetzen. (S. 285)

Die Fakten
Teile des Buches bestehen aus Gefechtsberichten, Akten und Zeitungsberichten und sind an Zynismus teilweise kaum zu überbieten. Diese Dokumente sind sperrig zu lesen und die Schlachtberichte langatmig. Viel interessanter sind die Kapitel zur Landeskunde, die bis in die Zeit der ersten idealistischen Missionare zurückreichen, während der im Deutschen Reich Wollmützchen für Afrikaner gehäkelt wurden. Sie handeln von Händlern, die in den bis dahin in zufriedener Selbstgenügsamkeit lebenden Nama neue Bedürfnisse weckten und sie zur Begleichung ihrer Schulden Überfälle auf die Rinderherden der Herero unternehmen ließen, von Forschern, Landvermessern und schließlich Soldaten.

Keine leichte Lektüre
Uwe Timm gehört seit vielen Jahren zu meinen Lieblingsschriftstellern. Am Beispiel meines Bruders halte ich für eines der wichtigsten Bücher der deutschen Nachkriegszeit, Die Zugmaus für ein witzig-fantasievolles Kinderbuch und auch seine neueren Romane wie Vogelweide und Ikarien sind außerordentlich lesenswert. Morenga ist ein Lehrstück über die deutsche Kolonialgeschichte und den ersten Völkermord der Neuzeit, ein Drama ohne Helden, in dem Uwe Timm wie immer auf platte Parolen verzichtet. Eine ungemein lohnende, aber auch anstrengende Lektüre, die mir eine Landkarte, ein Glossar und Anmerkungen dazu, welche Quellen authentisch sind und welche Fiktion, erleichtert hätten. Bereichernd ist das Nachwort von Robert Habeck, der den Text klug zusammenfasst und ihn in den Kontext seiner Entstehungszeit während des Kampfes gegen das südafrikanische Apartheitsregime stellt.

Uwe Timm: Morenga. Mit einem Nachwort von Robert Habeck. dtv 2020
www.dtv.de

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